Gertrude Sandmanns (1893–1981) Aktstudie von 1922 zeigt zwei Frauen, die uns als Betrachter*innen den Rücken kehren und deren Gesichter uns verschlossen bleiben. Nah beieinandersitzend, die Köpfe einander zugeneigt, scheinen sie in ein Gespräch vertieft zu sein. Mit wenigen Strichen fängt Sandmann die intime Atmosphäre zwischen den beiden Frauen ein. Das Medium der Zeichnung – geeignet um flüchtige, momenthafte Eindrücke spontan einzufangen – nutzt die Künstlerin, um das Private der Begegnung festzuhalten.
Wer Sandmann hier Modell gesessen hat, ist nicht bekannt. Die Anonymität der beiden Frauen bleibt in der Rückenansicht gewahrt, doch werden die individuellen Formen der Körper aufgenommen. Die Zeichnung war für Gertrude Sandmann das wichtigste Medium, um Gesehenes und nicht Gesehenes, visuelles Denken und Fühlen in einem Bild auszudrücken. Bis ins hohe Alter schuf die Künstlerin ein großes Konvolut an Zeichnungen, die Akte und Porträts von Frauen jeden Alters zeigen. Zahlreiche Bilder von anonymen Frauenpaaren entstanden schon in den 1920er Jahren. Zu der Zeit gab es zum einen Debatten über eine mögliche Kriminalisierung lesbischer Frauen, die im Gegensatz zu homosexuellen Männern keine Strafe durch den Paragrafen §175 zu befürchten hatten, aber in einer heteronormativen Gesellschaftsstruktur diskriminiert wurden. Zum anderen existierte eine vielfältige homosexuelle Subkultur mit Vereinen sowie queeren Orten wie Lokalen, Bars und Varietés.
Die jüdische Künstlerin selbst sah es trotz der heteronormativen Gesellschaft, in der sie lebte, als Glück an, eine „Lesbierin“ zu sein. Vor allem als während der NS-Zeit die Repressionen gegen jüdische Personen immer unerträglicher wurden, war ihre langjährige Lebenspartnerin Hedwig „Jonny“ Koslowski ihre wichtigste Bezugsperson. 1974 mit der aufkommenden queeren Emanzipationsbewegung in der BRD schloss sich Sandmann der Gruppe „L74“ (Lesbos 1974) an, einer der ersten Nachkriegsorganisationen für ältere, lesbische Frauen.
Autor*in:
Anna-Maria Nitschke
Ehem. Wissenschaftliche Volontärin
Pronomen: sie/ihr
Weitere Werke aus dem Projekt
Rolf von Bergmann
Ohne Titel (Selbstporträt mit Salomé), 1977
Tabea Blumenschein
Dixie Marine, 1995
Otto Dix
Eldorado, 1927
Rainer Fetting
Selbst als Gustaf Gründgens, 1974
Nan Goldin
Siobhan in my mirror, 1992
Werner Heldt
Meeting (Aufmarsch der Nullen), 1933–1935
Hannah Höch
Porträt Til Brugman, 1927
Herbert Tobias
Ohne Titel (Selbstporträt), 1952
Klaus Vogelgesang
Haare unterm Arm, 1971
Ming Wong
Kontakthope, 2010