Judith Raum

Künstlerin und Autorin

 

Was ist das Besondere an der Raumkunst von Geyer-Raack?

Für mich, die ich mich mit gewebten Innenraumtextilien und Funktionsstoffen der 1930er Jahre beschäftige, von EntwerferInnen mit webtechnischer Ausbildung entwickelt, sticht an Geyer-Raacks Werk besonders ihre Verwurzelung in einer malerischen Praxis ins Auge. Die Wandmalereien für Wohn-, Schlaf- und Gesellschaftszimmer, für unsere durch monochrome Dispersionsfarbe und Acryllack abgestumpften Augen in ihrer komplexen und subtilen Wirkung auf bewohnte Flächen kaum mehr vorstellbar, sind hier ein ganz eigenes Kapitel. Berührend, sich vorzustellen, wie viel Mühe in diese Arbeiten geflossen sein muss, die als „Dekorationselemente“ dann dem Wechsel der Moden und Geschmäcker ganz anders ausgesetzt waren als ein Tafelbild.

Im textilen Bereich entschied sich Geyer-Raack durch die Konzentration auf bedruckten Stoff für einen Typ Innenraumtextil, in dem gerade diese malerischen Fähigkeit zur Entfaltung kommen konnte. Die von ihr entworfenen Druckstoffe mit floralen Motiven sind Dekorationsstoffe im besten Sinn. Entwerferinnen, die gewebte Stoffe entwickelten, gaben durch die Art der Bindung und Materialwahl den Textilien wärmedämmende, schallisolierende oder lichtreflektierende Funktionen. Dadurch war das Spektrum der Anwendungen im Innenraumbereich vergleichsweise breiter. Druckstoffe wie die von Geyer-Raack wurden als Vorhänge am Fenster, auf Sitzmöbeln im Privatbereich, als Kissen oder Tischdecken verwendet, teilweise auch als Wandspannstoff, dann aber in rein dekorativer Funktion. Bei gewebten Funktionsstoffen konnte der Fokus dagegen auf strapazierfähigen und abwaschbaren Möbelstoffen für den öffentlichen und halböffentlichen Bereich liegen, auf bauphysikalisch wirksamen Wandstoffen und Auslegware für den Boden. Orte wie Krankenhäuser, Lichtspieltheater sowie die modernen Transportmittel Flugzeug, Automobil und Eisenbahn wurden mitbedacht.

Für die Abbildung und Besprechung in populären Innendekorationszeitschriften der 1930er Jahre waren Druckstoffe dankbarer als gewebte: anders als die feinen Strukturzeichnungen gewebter Stoffe sind deren großzügige Musterungen auf kleinformatigen Abbildungen gut zu erkennen, so auch auf den Aufnahmen, die sich von den von Geyer-Raack gestalteten Innenräumen erhalten haben.

Geyer-Raack setzte aber auch monochrome Textilien in ihren Inneneinrichtungen ein, dann vorzugsweise im anfangs der 1930er Jahre beliebten Schwefelgelb.


Wer waren ihre Kolleg*innen?

Ich sehe Ruth Geyer-Raack in einem Kontext von Innen- und AusstellungsarchitektInnen wie Lilly Reich oder TextilgestalterInnen wie Josef Frank, der für seine Druckstoffe bekannt ist. Mit Lilly Reich teilt sie ihre Vorliebe für Innenräume, die mit großflächigen textilen Farbflächen gegliedert sind – bei Geyer-Raack 1931 etwa crèmeweiße Tüllgardinen mit hellgelben Vorhängen, flächig von Decke zu Boden gehängt, dunkelblaue Auslegware auf dem Boden.


Warum ist das Werk von Ruth Geyer-Raack heute nur Fachkreisen bekannt?

Textilien standen lange nicht im Fokus des Forschungsinteresses der Kunst- und Designgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts. Erst seit den späten 1980er Jahren setzte hier eine Veränderung ein. Nach wie vor gibt es viel Platz nach oben bei der künstlerischen und wissenschaftlichen Aufarbeitung des Beitrags, den Textilien in der Vorstellung ihrer EntwerferInnen im (modernistischen) Innenraum leisten konnten und können.


Ist eine wissenschaftliche Aufarbeitung ihres Werks heute noch lohnenswert?

Angesichts der Erweiterung des zeitgenössischen Malereibegriffs hin auf raumbezogenen Arbeiten und Textil und angesichts vielfacher Vorstöße, die althergebrachten Grenzen zwischen Freier Kunst und Design neu zu verhandeln, finde ich Geyer-Raacks medial breiten und mit Blick auf einzelne Disziplinen unhierarchischen Ansatz unbedingt interessant.