Rückblick

Closer to Nature

Bauen mit Pilz, Baum, Lehm

Ausstellungsansicht: Blick auf eine Lehminstallation und eine Konstruktion aus Holz-Pilzmodulen. An den matt-grünen Wänden hängen weitere Arbeiten und Dokumentationen der beteiligten Projekte.

Ausstellungsansicht „Closer to Nature. Bauen mit Pilz, Baum, Lehm“, Berlinische Galerie

© Foto: Jens Ziehe

Architektur und Natur stehen zwangsläufig in Konkurrenz. Angesichts endlicher Ressourcen und eines gleichzeitig stetig wachsenden Raumbedarfs wird diese Tatsache zum Dilemma. Hinzu kommt das Wissen um die enorme Abfall- und Emissionsproduktion im Bauwesen. All das lässt heute nach einem Perspektivwechsel in der Architektur fragen: Kann mit, statt gegen die Natur gebaut werden? Die Ausstellung präsentiert drei Berliner Architekturprojekte: der Experimentalbau MY-CO SPACE (2021, MY-CO-X), ein Entwurf aus dem Wettbewerb zum Ausstellungshaus Futurium (2012, 3. Preis, ludwig.schoenle, heute OLA – Office for Living Architecture) und die Kapelle der Versöhnung an der Bernauer Straße (1996–2000, Reitermann/Sassenroth Architekten mit Lehm Ton Erde Baukunst – Martin Rauch).

Digitales Modell: Das Modell zeigt ein bewachsenes Gebäudes, dessen beide Hälften jeweils eine Jahreszeit, Sommer und Winter, darstellen. Auf dem Vorplatz des Gebäudes sind kleine Grüppchen oder einzelne Personen zu sehen.

Closer to Nature
Medienstation

Erfahren Sie mehr über die historischen Hintergründe, Praxen und zukunftsweisenden Ansätze der hier vorgestellten Projekte.

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Neue Sinnlichkeit

Die im Rahmen der Ausstellung vorgestellten Projekte nutzen die Potentiale von Pilzen, lebenden Bäumen und Lehm. Dadurch gewinnen sie eine ökologische Qualität, aber auch einen völlig neuen Charakter: Die Bauten atmen, wachsen und werden somit selbst lebendig. Diese Eigenschaften bringen zugleich eine überraschende Sinnlichkeit der Architektur mit sich. Sie ermöglicht so ein Raumerlebnis, das die Beziehung zu unserer Umwelt auch körperlich erfahrbar macht – was über das Materielle hinaus nachhaltig wirken kann. In der Ausstellung sind Materialität und Ästhetik des Bauens mit Pilz, Baum und Lehm an raumgreifenden, teils für diesen Zweck neu entwickelten Installationen zu erleben. Daneben erläutern rund 45 originale Pläne und Skizzen, Fotografien, Renderings, Objekte und Modelle die Entstehung der drei Projekte sowie ihre zugrundeliegenden Ansätze.

 

 

Ansätze nachhaltigen Bauens

Auf den Gebieten der Pilzforschung, der sogenannten Baubotanik und dem modernen Lehmbau sind die hier vorgestellten Planungsgemeinschaften – das Wissenschafts-Kunst-Kollektiv MY-CO-X aus Berlin und das Stuttgarter Office for Living Architecture (OLA) sowie das Team des Vorarlberger Lehmbauexperten Martin Rauch – international anerkannt oder zählen zu deren Vorreitern. Sie eint, dass sie in ihrer Arbeit sowohl Perspektiven verschiedener Disziplinen als auch modernste Technologien mit traditionellen Praktiken zusammenbringen. Mit dem Ziel, klimafreundlicher zu bauen, schaffen sie neue Verbindungen zwischen der Architektur und deren Außen. So sind Pilz, Baum und Lehm hier nicht allein Baumaterial. Sie sind Partner, von denen die Architekt*innen lernen und die die Gebäude konzeptionell und formal mitbestimmen. Dabei nähern sich Architektur und Natur auf verschiedene Weise an, kooperieren oder verbinden sich miteinander.

 

Bauwende

Innerhalb der derzeit vielbesprochenen „Bauwende“ heben sich die präsentierten Bauten und Entwürfe hervor. Sie stehen für die Überzeugung, dass eine nachhaltige Architektur nicht allein technisch, etwa im Fokus auf ökologische Baustoffe und Energieeffizienz, einzulösen ist. Vielmehr tragen sie zur kulturellen Dimension der Nachhaltigkeitsdebatte bei, indem sie das gewohnte Verhältnis von Architektur und Natur hinterfragen und grundsätzlich für unsere nicht menschengemachte Umwelt sensibilisieren.

Natur vs. Architektur

Der erwähnte Konflikt ist ein ebenso alter wie grundsätzlicher: Vor natürlichen Einflüssen wie Witterung oder wilden Tieren zu schützen, ist die elementare Funktion des Bauens. Deutlicher noch als andere diente diese Kulturtechnik dazu, die Natur zurück-zudrängen, zu überwinden und im besten Falle nutzbar zu machen. Dementsprechend beschrieb Le Corbusier, einer der Heroen der Moderne, noch 1925 das Bauen von Städten als „eine Tat des Menschen wider die Natur.“ Kritik und Gegenentwürfe, sowohl utopisch-visionäre als auch realisierte und erfolgreiche, gab es in der Architekturgeschichte immer wieder. Insbesondere in Berlin rund um die IBA 1987 entwickelte sich eine ökologische Architekturbewegung. Auch sie setzte auf Naturbaustoffe und versuchte, Gebäude stärker in die Kreisläufe ihrer natürlichen Umwelt zu integrieren, Sonnenenergie und Regenwasser zu nutzen, mit vorgefundener Vegetation behutsam umzugehen und diese in die Bauten einzubinden. Nicht zuletzt die seit der Wiedervereinigung auch politisch beförderten Diskurse um „Kritische Rekonstruktion“ und Hauptstadtwerdung verschoben den Fokus und ließen solche Ansätze größtenteils wieder versiegen. Die historisierende Architektur, die heute vielerorts entsteht, ist davon ebenso eine Folge wie die Tatsache, dass die Opposition von Natur und Architektur immer noch ungebrochen ist. Diese bestimmt weiterhin vor allem eine Konkurrenz um Raum und Ressourcen. Doch scheint es angezeigt, diese Beziehung zukünftig neu zu denken.

Kapitel der Ausstellung

Am Beginn der Ausstellung stehen künstlerische Positionen (aus der Sammlung des Museums und Leihgaben) von Elisabeth Niggemeyer, Ulrich Wüst und Thomas Eller. Die Fotografien Niggemeyers und Wüsts machen anschaulich, wie fremd und scheinbar unvereinbar die Architektur der Nachkriegsmoderne allem Organischen, Gewachsenen gegenübersteht. Thomas Ellers Fotoinstallation setzt, in Bezug auf Albrecht Dürers berühmtes Aquarell „Das große Rasenstück“ von 1503, die angesprochene Frage nach einem Perspektivwechsel ins Werk: Der Mensch begegnet den Betrachtenden hier ganz klein, die Natur plötzlich übergroß.

An pilzbasierten Baumaterialien forscht das 2020 in der Hauptstadt von der Biotechnologin Vera Meyer und dem Architekten Sven Pfeiffer gegründete Kollektiv MY-CO-X. Für die aktuell neun Mitglieder aus Biotechnologie, Kunst, Design und Architektur ist der Pilz als Meister in Vernetzung, Transformation und Symbiose dabei weniger Forschungsobjekt denn Partner und Lehrer. Als Gemeinschaftswerk ist so 2021 MY-CO SPACE entstanden – ein mobiler Experimentalbau zum Schlafen, Wohnen und Arbeiten, der mit 300 Paneelen eines Pilzverbundstoffes verkleidet ist. Das im Labor erzeugte Baumaterial verwertet Rest-, statt Rohstoffe zu verbrauchen. Es ist selbst vollständig abbaubar, leicht und dämmend. An seiner Robustheit, auch gegen Witterung und Feuer, wird aktuell geforscht. Das etwa 20 Quadratmeter große „Pilzhaus“ kann in der Ausstellung betreten werden.

Die Architekten Ferdinand Ludwig und Daniel Schönle zeigen mit ihrem Ansatz der Baubotanik, dass auch lebende Natur Baumaterial sein kann. Sie arbeiten an hybriden Gebäuden, in denen pflanzliche und bauliche Elemente verschmelzen. So entstehen wachsende Architekturen, die sich stetig verändern und nie vollendet sind. Dem traditionellen Verständnis, das von einem Gebäude zuallererst Beständigkeit erwartet, läuft dies zuwider. Gleichzeitig birgt die Baubotanik ganz neue Wahrnehmungsmöglichkeiten, die Architektur- und Naturerfahrung in eins setzen. Im heutigen Futurium, einem Ausstellungshaus unweit des Berliner Hauptbahnhofs, hätte so der Eindruck entstehen können, man befinde sich mitten in einer Baumkrone. Der mit dem 3. Preis ausgezeichnete Entwurf von Ludwig und Schönle sah eine baubotanische Fassade vor. Diese rauten-förmige Struktur aus Platanen wäre mit dem Gebäudekern verwachsen und auf einer Rampe erschlossen worden. Die Bäume könnten Tieren Lebensraum bieten, Feinstaub binden und durch Verschattung Energie sparen. Im Ausstellungsraum vermittelt eine echte Baumverwachsung einen Eindruck von der geplanten Fassade und den aktuellen Techniken der Baubotanik, aus mehreren Pflanzen große, belastbare und dennoch lebensfähige Strukturen zu bilden.

Die Kapelle der Versöhnung an der Bernauer Straße ist der wichtigste moderne Lehmbau Berlins. Geplant wurde der Sakralbau von Rudolf Reitermann und Peter Sassenroth. Die den Kappellenraum umschließende, sieben Meter hohe Wand aus gestampftem Lehm realisierte der Österreicher Martin Rauch. Seinerzeit ein Wagnis, gilt dieses Werk heute als Pionierleistung: Es ist der erste Stampflehmbau seit 100 Jahren nördlich der Alpen und der erste konstruktive Berlins.
Für die Ausstellung hat Martin Rauch eine Installation aus Stampflehm entworfen. Sie bezeugt die Erneuerung des europäischen Lehmbaus, den er wesentlich mit vorantreibt. Das Werk besteht aus vorgefertigten Elementen. Rauch überführt die uralte Methode des Stampflehmbaus in die Serienproduktion. Sein Unternehmen arbeitet für renommierte Architekturbüros in Europa und darüber hinaus. Für die Besucher*innen macht die Lehminstallation in der Ausstellung die außergewöhnliche ästhetische Kraft des Lehms erfahrbar. Das irdene Material spricht verschiedenste Sinne an.