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Rückblick

ZusammenSpiel

Tabea Blumenschein
Ulrike Ottinger

Selbstauslöser mit Tabea Blumenschein, Erdmannstraße 12, 1976, Archiv Ulrike Ottinger

Selbstauslöser mit Tabea Blumenschein, Erdmannstraße 12, 1976, Archiv Ulrike Ottinger

© Ulrike Ottinger

Tabea Blumenschein (1952–2020) ist dem Publikum vor allem als Darstellerin in den Filmen der international renommierten Regisseurin Ulrike Ottinger (*1942) bekannt. Blumenscheins künstlerische Kreativität fand in ihrer zweiten Lebenshälfte in der Zeichnung eine starke weitere Ausdrucksform. Es entstanden hunderte fiktive und stilisierte Porträts in einem an Comic-Zeichnungen erinnernden Stil, in denen die Künstlerin vermischte, was sie liebte: Mode, Folklore, Kitsch und Pop-Kultur. Die Personen, die Blumenschein darstellte und die nicht zuletzt als vielfältige Selbstporträts aufzufassen sind, zitieren durch ihre Attribute wie farbige Tattoos und Kostümierungen die Ästhetiken von Queer- und Subkulturen.

Mit einer Auswahl von etwa 40 großformatigen, farbigen Blättern stellt die Berlinische Galerie dieses bisher wenig bekannte zeichnerische Werk vor. Ergänzt um eine etwa gleichgroße Anzahl von Fotografien von Ulrike Ottinger, die Blumenschein in verschiedenen Filmprojekten zeigen, feiert die Schau zugleich die künstlerische Zusammenarbeit und Freundschaft dieser beiden wichtigen Protagonistinnen der Berliner Kunstszene der 1970er und 1980er Jahre. 

Die Ausstellung findet aus Anlass der umfangreichen Schenkung von Werken Blumenscheins aus dem Besitz Ottingers an die Berlinische Galerie statt. Damit vertieft das Museum sein grundlegendes und beständiges Interesse an den Lebensleistungen von Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts. Neben Positionen der klassischen Moderne wie etwa Jeanne Mammen (1890–1976) und Lotte Laserstein (1898–1993) hat es sich in Retrospektiven stets auch für in Berlin lebende zeitgenössische Künstlerinnen wie etwa Dorothy Iannone (*1933) oder Loredana Nemes (*1972) eingesetzt.

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Frühwerk

Blumenscheins zeichnerisches Frühwerk, das zwischen 1968 und 1972 während ihres Studiums an der Bodensee-Kunstschule in Konstanz (heute Kunstschule für Angewandte Grafik und Design) entstand und in der Ausstellung erstmals präsentiert wird, ist inspiriert von Stilmitteln des Surrealismus und der Pop-Art. Zuneigung und Bewunderung sprechen aus den Porträts von Ottinger, die Blumenschein mit Anfang zwanzig anfertigte: farbige, reich mit Engelsköpfen, Vögeln, Blumen und Sternen ornamentierte Bildnisse mit üppiger Lockenfrisur in kleinteiligen Wellen und Mustern. Als Kunststudentin war Blumenschein noch auf der Suche: Sie experimentierte mit Radierung und Federzeichnung, mit Filzstift, farbiger Tusche und Goldpapier und setzte ihre Träume und ihre Liebe in Szene.

Verwandlungskünste

Ottinger entwarf in ihren Filmen fantastische Welten, in denen die Schauspieler*innen in unterschiedlichen Rollen auftreten und zwischen den Geschlechtern wechseln. Hier konnte Blumenschein als Darstellerin in „Laokoon & Söhne“ (1972/73), „Die Betörung der Blauen Matrosen“ (1975) und „Madame X – Eine absolute Herrscherin“ (1977) ihre Verwandlungskünste unter Beweis stellen. Während sie in diesen ersten drei Filmen Ottingers Figuren verkörperte, die auf der Suche nach ihrer Identität einen Prozess von Gendertransformationen durchlaufen, begab sie sich in „Bildnis einer Trinkerin“ (1979) auf den Weg durch das glamouröse bis abgewrackte West-Berlin in den Abgrund der Selbstzerstörung.

Die im Zusammenhang mit den Filmenund darüber hinaus entstandenen fotografischen Aufnahmen Ottingers feierten die Schönheit und Ausdrucksfähigkeit der Freundin. Dieser umfangreiche Werkkomplex entstand aus einem Zusammenspiel der beiden Künstlerinnen. Sie kreierten im spontanen Spiel die unterschiedlichsten Identitäten und Rollenbilder und inszenierten in schillernden, provokativen Bildern das Thema Geschlecht.

Feministische Selbstermächtigung

Im Laufe ihrer Zusammenarbeit mit Ottinger entwickelte sich Blumenschein zu einer professionellen Gestalterin von Kleidung und zu einer kongenialen Interpretin von Figuren. Als Kostümdesignerin für die gemeinsamen Filme der 1970er Jahre war sie mit dem künstlerischen Prozess von der Skizze bis zur Ausführung und Aufführung betraut. 

Nachdem mit dem Film „Bildnis einer Trinkerin“ von 1979 die Zusammenarbeit mit Ottinger vorerst beendet war, fand Blumenschein im Kreis der Westberliner Punkmusik- und Avantgardeszene ein neues Aktionsfeld. 1980 erschien in der kurzlebigen deutschen Ausgabe von Andy Warhols Zeitschrift „Interview“ eine ungewöhnliche Modeseite mit vier Zeichnungen Blumenscheins zum Motto: »Mode ist Weltgeschichte ohne Politik«. Dieser Satz ist programmatisch: Mode kann sich als künstlerische Ausdrucksform alle Kulturen der Welt aneignen und für eigene Kreationen nutzbar machen, umdeuten oder neu interpretieren. Alles Hässliche kann schön sein, alles Fremde kann vertraut und alles Gute kann auch böse sein. Das wurde zum Leitmotiv für Blumenscheins feministische Selbstermächtigung.

Die Künstlerin zählte neben Blixa Bargeld, Frieder Butzmann, Dagmar Dimitroff, Wolfgang Müller, Nikolaus Utermöhlen und anderen zu den „Genialen Dilletanten“, deren Manifest 1982 im legendären Merve Verlag auch mit ihren Zeichnungen publiziert wurde. 

In der von Müller und Utermöhlen 1980 gegründeten Gruppe „Die Tödliche Doris“ wirkte Blumenschein als Kostümdesignerin und Darstellerin mit. 1984 trat sie mit der Gruppe in New York auf. Sie selbst drehte im Format Super 8 eigene Filme. Das ZDF zeigte im Mai 1985 ihren zwei Jahre zuvor produzierten 69-minütigen Film „Zagarbata“, der mit einem abgefilmten Live-Auftritt der „Böhsen Onkelz“, die damals als Nazi-Skinhead-Band galten, begann und in dem auch Claudia Skoda, Marc Brandenburg, Wolfgang Müller mitspielten. Blumenscheins Obsession mit dem Deutschsein schlug sich vor allem in der ersten Hälfte der 1990er Jahre nieder und wurde seither in wechselnden Variationen zum festen Bestandteil ihrer Bildwelt, immer begleitet von konträren Motivfeldern: Frauen, Matrosen, Bartfrauen und Indigene verschiedenster Kulturen, etwa aus Mexiko, Hawaii, der Südsee oder Afrika.

Liebe zum Detail

Zwischen 1988 und 1990 perfektionierte Tabea Blumenschein das Motiv der reich attribuierten schönen Frau als ein besonders faszinierendes Kapitel ihrer Identitätsexperimente. Mal erschien die Schöne als Piratenkönigin mit knappem Leibchen, tätowierten Oberarmen und Zigarette im Mundwinkel, umgeben von Symbolen aus Comic und Populärkultur, mal als Herrscherin, umringt von turbangeschmückten Totenköpfen und großen, schwarzen Giftspinnen auf feuerrotem Gewand. 

Typisch für alle Motivfelder ist eine konturbezogene Vereinfachung der Figuren, die durch Ornamentierung immer wieder variiert werden. Die kleinteilige Ausgestaltung der Flächen verlangt in der künstlerischen Ausführung Geduld und Zeit. Die Liebe zum Detail ist die Liebe zum Motiv. 

Blumenscheins queere Ikonen fächern sich auf: Die schöne Frau wird um 1990 abgelöst vom jungen „Marine“, der mit den Frauen die Augenform, den Kussmund, den Schönheitsfleck teilt. Ihre Bilder der „Lovely Sailors“ variieren das Thema des Matrosen als Sinnbild für schwule Ikonen von Hypersexualität und -maskulinität. 

Mitte der 1990er Jahre beginnt paralleldazu das Motivfeld „Deutschland“. Hier geht es um das Thema der Heimat, zumal sie selbst zeitweilig heimatlos in einer Einrichtung für obdachlose Frauen und dann in einer Sammelunterkunft in Berlin-Adlershof lebte.

Spätwerk

1999 konnte Blumenschein eine kleine Wohnung in einer Plattenbausiedlung in der Allee der Kosmonauten in Berlin-Marzahn beziehen. Verstärkt durch den glücklichen Umstand, dass der für lange Jahre unterbrochene Kontakt zu Ottinger sich allmählich wieder einstellte, entwickelte die Künstlerin in ihren Zeichnungen neue Themenfelder, nicht zuletzt angeregt durch Ottingers filmische Expeditionen nach China, in die Mongolei, die Taiga und auf die Krim. Sie beschäftigte sich mit dem Entdecker James Cook, notierte zu den gezeichneten Palmen, Hawaii-Mädchen und Piraten kleine Geschichten aufs Papier und klebte fotografische Selbstporträts dazu. Indem sie der populären Wildwestikone Calamity Jane eine Zeichnung widmete, offenbarte sie ihr anhaltendes Interesse für eigenständige, sich in der Männerwelt behauptende Frauen. 

In den letzten zehn Jahren ihres künstlerischen Arbeitens gelang es Blumenschein, ihren Kosmos widersprüchlicher Geschlechter- und Rollenbilder um neue Motive anzureichern, darunter „Bartfrauen“ in prächtiger ornamentaler Gewandung. Im 19. Jahrhundert als Anomalien in so genannten Freak Shows auf Jahrmärkten ausgestellt, mythologisch als zweigeschlechtlich angesehen, sind die „bearded ladies“ Teil der traditionellen Populärkultur. Blumenschein selbst hatte sich in Ottingers Filmen „Laokoon & Söhne“ und „Die Betörung der blauen Matrosen“ in einen jungen Mann mit Menjou-Bärtchen verwandelt. Doch es geht beim Thema Bartfrauen nicht allein um Rollentausch. Die faszinierende Vorstellung liegt eher darin, beide Geschlechter und das, was an ihnen als schön gilt, zu vereinen und nicht organisch, sondern an der Oberfläche „hermaphroditisch“ zu werden. Daher zeigen Blumenscheins Bartfrauen im eng geschnürten Kleid oder im Ballettröckchen ihre prächtigen Brüste, und ihre seidigen Bärte sind lang, geflochten oder mit Schleifen geschmückt.

Dieser Text basiert auf dem Beitrag „Detail ist alles. Zu den Bildern von Tabea Blumenschein” von Annelie Lütgens in der Publikation „ZusammenSpiel“ (Hatje Cantz Verlag).

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Die Ausstellung steht in der Tradition des Verborgenen Museums und wird ermöglicht durch den Hauptstadtkulturfonds (HKF).