Hörstation 1
Dada Berlin. Auszüge aus „Am Anfang war Dada“
Hörstation 2
Auszüge aus dem Buchmanuskript „Hyle“
Hörstation 3
Von Dada bis Neodada. Auszüge aus „Am Anfang war Dada“
Transkripte
Dada ist die Keimblase des neuen Typus Mensch: jenseits des moralischen christlichen mittelalterlichen Sündenballasts ist Dada die Negation des bisherigen Sinnes des Lebens, einer Kultur, die vermodert war.
DADA war in Zürich geboren, und Huelsenbeck, brachte die Botschaft nach Berlin, wo der Kreis der Freien Straße um Franz Jung schon vorbereitet war, alle Konsequenzen einer Empörungs-Aktion zu ziehen.
Der erste Abend am 12. April 1918 war noch eklektisch, aber die Wirkung auf das von epileptischer Wut erfasste Publikum war ungeheuer und unmittelbar. Es war die Bankerott-Erklärung aller heiligsten Werte der Bürger.
In Berlin erschien DADA in einem, trotz des Krieges, krampfhaft festgehaltenen Bildungsbetrieb. Das unentschiedene Tasten von Zürich genügt nicht mehr, zum Teufel!
Ich machte immer neue Vorschläge für unsere Abende, aber ich wurde nicht böse, wenn die andern DADAisten sie nicht annahmen.
Wir erfanden alle Tage neue Bluff-Nachrichten, die wir nachts auf der Maschine schrieben und vor sechs Uhr morgens in die Redaktion trugen, damit sie noch mittags erscheinen konnten.
DADA musste unverdaulich bleiben.
Um seine Stellung aufrecht zu halten, hatte ich beschlossen, mit Grosz und Heartfield die ‚Große Internationale DADA-Messe‘ Sommer 1920 in Berlin zu organisieren. Bei diesem letzten Aufflackern konnte man Fotomontagen, Assemblagen und Plakate sehen, die Alles übertrafen, was man bisher gesehen hatte.
Und die Kunst in alledem? Achtung, auch sie wird aktiv. Vorbei mit der Ästhetik; ich kenne keine Regeln mehr, weder des ‚Wahren‘ noch des ‚Schönen‘, ich verfolge eine neue Richtung, die die Ordnung meines Körpers mit vorschreibt.
NIEDER MIT DEM DEUTSCHEN SPIESSER!
Es war wie ein Blitz: man könnte - ich sah es augenblicklich - Bilder machen, ganz und gar aus zerschnittenen Fotos zusammengestellt.
Ich fing an Bilder aus farbigen Papieren, Zeitungsausschnitten und Plakaten zu machen und bediente mich der Fotos aus der Presse und dem Kino.
In meinem Neuerungseifer brauchte ich auch einen Namen für diese Technik. Gemeinsam - George Grosz, John Heartfield, Johannes Baader, Hannah Höch und ich - beschlossen wir, die Erzeugnisse Fotomontage zu nennen.
Dieser Name entstand dank unserer Abneigung, Künstler zu spielen; wir betrachteten uns als Ingenieure (daher unsere Vorliebe für Arbeitsanzüge), wir behaupteten, unsere Arbeiten zu konstruieren, zu montieren.
Dies war die Geschichte der Erfindung der Fotomontage. Es waren vor allem ich, Johannes Baader und Hannah Höch, die die neue Technik entwickelten und ausbauten.
Schließlich und endlich, Buchstabengedichte sind wohl auch zum Sehen da, aber auch zum ANsehen - warum also nicht Plakate aus ihnen machen? Auf verschiedenfarbigem Papier und in großen Druckbuchstaben?
Also in die Druckerei von Robert Barthe in die Dennewitzstraße und gleich, gleich die neue Dichtform in Angriff genommen.
Dank dem Verständnis des Setzers war die Verwirklichung leicht, aus dem Kasten der großen hölzernen Buchstaben für Plakate nach Laune und Zufall hingesetzt, was da so kam, und das war sichtbar gut.
Ein kleines f zuerst, dann ein m, dann ein s, ein b, eh, was nun? Eine große écriture automatique mit Fragezeichen, Ausrufezeichen und selbst einer Anzeigehand dazwischen!
Wirklich, der Setzer war sehr intelligent, ohne ihn wäre das nie zustande gekommen!
Und so wurden vier verschiedene Plakate gesetzt, dann auf ziegelrotem, auf grünem und auf gelbem Papier gedruckt – das sah wunderbar aus.
Zwei dieser Plakate waren in kleinen Buchstaben und zwei in großen Buchstaben gesetzt worden – OFFEAH und so.
Große sichtbare Lettern, also lettristische Gedichte, ja noch mehr, ich sagte mir gleich optophonetisch! Verschiedene Größen zu verschiedener Betonung! Konsonanten und Vokale, das krächzt und jodelt sehr gut! Natürlich, diese Buchstabenplakatgedichte mussten gesungen werden! DA! DADA!
Die Lautgedichte wollten nichts. Die DADAistische Dichtung wollte nichts, sie überwand die Unterschiede zwischen einem Kochlöffel, einer Kuh, einem Eisenbahnstrang, einem Lärm und einer Redensart, lange bevor es eine surrealistische Theorie gab.
Mein Buch heißt „HYLE“, weil wir nur Stoff sind. Man kann nicht über den bloßen Stoff schreiben durch Selbstbetrachtung. Hat man die, so weiß man, dass man nicht alles wissen kann.
Besinnen, Erinnern, Ja, hier, hier, hier sein, da bist Du, liegst da im Bett, in dieser Stube, da und da auf der Erde, auf einer Nordsee-Insel – und kannst sein: gestern, oder vor einem Jahr, vor einer Stunde, in Berlin, oder in den Dolomiten, siehst dich voraus, jung, alt, bist, bist: hier! und doch ganz wo anders – bist wer anders in derselben Sekunde, in der du DU und nicht als DU bist! Holst alte Stücke von dir vor, solche, die längst von dir abgefallen sind, gestern, lebend jetzt – Tod, Leben, Gegenwart, Abwesenheit, alles zugleich – das ist Erinnerung.
Die runde Zwiebel Zeit entrollt sich. Hülle umringender Häute, eine Haut, viele hintereinander.
Sitze verloren hier und suche Zeit
Raum und Breit
Weit und Breit.
Über den Inselraum tost Wind, stürzt Regen, blitzdonnert schwefliges Gewitter. Taucht Menschen, Geschehen, Dinge in Leporelloaufblätterung von Spannungen, Entladungen, zersinnt Sinn des Tages. Fluid von Störung, Wildheit. Unband; Flüssigkeit, die alles durchtränkt. Tun blüht wie Blume, gelb und wild.
Gegensätzliche Spannung Himmels und Erde drängte Wolkenheerden über Sandrücken, die sich Nachts entluden in Blitzen, Donnern, aufhellend und durchkrachend die Finsternis, die surrenden Regengüsse, die surrenden Regengüsse.
Unter sichrem Dach und Tuch im bleichen Glühlicht: Gesindeball im Roten Kliff. Tosender Lärm tanzender Paare, Schurren der Schuhe auf plankenem Boden zu quäkend-brummendem, grunzendem Trompetenlaut. Nebenan fliesst Bier, Schnaps und Grog in Gläser und Münder, die enthaltene Steigerung wieder hinausbrüllen in betrunken-trinkender Überspannung.
Das Gehen auf dem gummigleich wippenden Erdboden, die absolute Stille, kein Windchen erhebt sich (die Randdünen schirmen ab) macht Zeit vergessen. Hin und wieder muss über einen der Marschgräben gesetzt werden – dann fahren die Füße auf der anderen Seite tief in den glitschigen Schmand, färben die Schuhe dunkelgraubraun.
Horchend, witternd. Ruhe. Nichts.
Es roch in der winzigen Kabuse, die Küche war, nach Pilzen, Krabben, Kräuterkräse, Tomaten. Im Halbdunkel nahmen die Gerüche eine intensivere, breiter aufgeschlossene Strahlung an. Sie fluoreszierten, wurden schimmernd, warm und nach dem dunkelroten Feuer des kleinen Petrolofens hin schwabbernd weit. Die Düfte strömten von den Tellern auf Schemmelhöhe der Wärme nach und füllten den Raum mit Schmecktatsachen. Die braundunklen Ecken mit wirren Stellagen, Kochtöpfen, Eimern, bauten um ein kleines, in der Abenddämmerung leise blaugrauviolett scheinendes Fenster drei Seiten des Raumes, der durch die offene Tür des größeren Vorraums und das Feuer des Petrolglühwurms ein fahlrotes Licht an der Decke, dem brettenen Fussboden, den Wänden fleckartig erhielt.
Eine Kunst? Eine Philosophie? Eine Politik? Eine Feuerversicherung? Oder Staatsreligion? Ist dada wirklich Energie? Oder ist es Garnichts, d. h. alles?
Die DADA-Bewegung war der totale Bruch mit der Vergangenheit, vor allem mit den herrschenden Ideen des 19ten Jahrhunderts, aber auch mit jenen des 17ten und 18ten.
Die DADA-Bewegung war der totale Aufstand gegen alle Gewohnheiten, jeden Glauben und alle Vorrechte.
DADA war die Relativität der Relativität.
Also befreite sich DADA von allen konventionellen Grenzen.
DADA suchte nichts als den PREsenten Augenblick herbeizuführen.
DADA war der Konflikt mit ALLEM.
Verborgen in Neuem Bewußtsein.
Was aber ist DADA sein?
Wenn nicht, auf einem Steckenpferd, genannt Skandal, sitzen, ohne selbst Skandal zu sein.
DADA war nichts als eine große vielfarbige Seifenblase, mit der sich Niemand identifizieren konnte; sie war Niemand und noch weniger ein Ding oder eine Sache.
Niemand konnte sich DADA nähern, selbst nicht durch ungewöhnliche Haltung, die im Unbewußten derjenigen spielte, die DADA beistanden.
DADA war aktiv, ohne zu existieren.
Denn: DADA ist mehr als DADA.
DADA war neben vielen anderen auch eine Protesthaltung gegenüber den bürgerlichen und intellektuellen Traditionen. Der NeoDADAismus ist dies entschieden nicht: er macht sich die Existenz nach bekannten Beispielen leicht und einfach. Zu einfach, manchmal so einfach, dass man von Plagiat sprechen könnte. Die Lautgedichte gewisser NeoDADAisten ahmen bis auf die Typographie die ersten Lautgedichte von 1916 bis 1920 nach.
Sie wollen nichts angreifen, nichts erschüttern, nichts verhöhnen, sie sind kein Protest, sie zeigen nur, dass man ein Rezept kennt, und dass man 'weiß', wie das gemacht wird.
DADA fiel wie der Regentropfen vom Himmel – doch niemand kann den Regen erklären.
Die NeoDADAisten haben das Fallen nachmachen gelernt, aber nicht den Regentropfen.
Der Regen hat keine Methode, DADA hatte keine Methode.
Manifest Morgenröte
Man muss sich von Allem befreien, was man schon kennt.
Was man kennt, war gestern.
Man muss das Heute sehen und das Morgen ahnen.
Was sein wird, ist nötig, was ist, wird unnütz.
Gestern war, ist vorbei.
Heute ist gerade noch, wird vergehen.
Morgen ist die Gegenwart des Jetzt.
Da-Sein ist: Morgen verwirklichen.
Das neue, große Morgen ist unser Material heute.