Transkripte

Das Viertel im Berliner Wedding ist eine Art Anachronismus, ein Stadtviertel mit Straßennamen, die noch immer in einer geopolitischen Zeitschleife existieren. Vor über hundert Jahren hatte ein erfolgreicher Zoo- und Zirkusunternehmer die Idee, in den Sanddünen gleich vor den damaligen Toren der Stadt ein Königreich für Tiere zu errichten, einen Zoo, inklusive Käfigen für menschliche Wesen aus den damaligen deutschen Kolonien.
Der Erste Weltkrieg und das sich gleichzeitig industriell ausdehnende Berlin machten diesen Plänen ein Ende. Aus den ehemaligen Sanddünen wurde ein Wohngebiet, durchzogen mit Straßen, die nach afrikanischen Kolonien, Regionen und Provinzen benannt wurden. Die längste von ihnen, die Afrikanische Straße, erstreckte sich einmal quer durch das Viertel, von Süden nach Norden. Eine U-Bahnstation trug denselben Namen. Das Viertel zog mich magnetisch an. Ich begann, regelmäßig durch seine Straßen zu schlendern, seine Architektur zu bestaunen, die sorgfältig angelegten Kleingärten, seine Bäume. Im Laufe der Jahre sind immer mehr Afrikaner*innen und Menschen afrikanischer Herkunft in das Viertel gezogen.
Auch der jahrelange Aktivismus hat dazu geführt, dass einige der Straßennamen umbenannt wurden, von den ursprünglichen Namensträgern – Männer, auf denen unmenschliche Taten lasteten – zu den Namen derer, die gegen solches Unrecht ankämpften.

1993 besuchte ich zum ersten Mal Südafrika, ein Land, das erst kurz zuvor von seinem jahrzehntelangen Apartheidregime befreit worden war. Als ich auf dem Flughafen von Johannesburg ankam, wurde ich von Zoll- und Einreisepersonal empfangen, das noch ausschließlich weiß war – etwas, das ich bis dahin noch an keinem anderen Ort in Afrika erlebt hatte. Als ich schließlich am Zielort Durban angelangt war, erlebte ich die ganze Absurdität der jüngsten gesellschaftspolitischen Befreiung. Die Mehrheit der Bevölkerung war und ist Schwarz. Es war eine Zeit der euphorischen Erneuerung, der Möglichkeit, zusammenzukommen und eine deutlich stabilere, strahlende Zukunft aufzubauen.
Gemeinsam mit einem Freund wollte ich ein Kulturzentrum in einem der Townships von Durban, Clermont, gründen, ein Township, in dem er aufgewachsen war. Unser Vorhaben war zunächst erfolgreich, das Zentrum wurde gut angenommen. Monate später wurden uns die vielen Maschinen und Geräte, die wir installiert hatten, gestohlen. Ein Zeichen für die Startschwierigkeiten, mit denen die neu entstandene Nation zu kämpfen hatte.
Das Fotografieren in Durban, in den abgelegenen Townships, war die reine Freude, trotz der noch immer spürbaren Spannungen aus der Zeit, die einmal gewesen war. Ich schlängelte mich durch weiße, indische und Schwarze Viertel und war mir der nun unsichtbar gewordenen Trennungs-linien bewusst, um mich herum sah ich misstrauische Augen, die den Fremden beäugten, der Eindrücke sammelte, lauschte, fotografierte. Die Narben waren noch sehr frisch und warteten auf eine Zeit, in der sie heilen oder zu entstellenden Linien verschwielen würden.

Städte, Megastädte, Städte mit über 20 Millionen Einwohner*innen sind kaum zu beschreiben, zu umrunden, zu durchwandern. Sie überwältigen einen, verschlingen einen in einem Labyrinth von unvorstellbaren Ausmaßen. Man glaubt, man könne losgehen, diese oder jene Straße hinuntergehen, umher schlendern und auf dem breiten Bürgersteig flanieren, und plötzlich ist man verloren und findet sich wieder in einen Komplex von Autobahnen und Nebenstraßen, Passagen, Alleen, Gehsteigen, Fahrspuren, No-go-Areas, Sackgassen, Einkaufszentren, kleinen städtischen Parks, Brücken über Bahngleisen, unter Durchgängen, Überführungen, auf Wegen hinaus in die Vororte, an die Ränder der Stadt, und immer noch ist man verloren, desorientiert, voller Angst. Während man wandert, wundert man sich.
Das alles begann in der Kindheit, der Drang, der nächsten Kurve zu folgen, zu entdecken, aufzudecken. Wir wuchsen in einem gehobenen Viertel von Lagos auf, Ikoyi, und schon damals fragte ich mich stets, was hinter den sorgfältig gepflegten, ruhigen, fast stattlichen Kolonialhäusern lag, die für die britischen Kolonialist*innen und die wenigen privilegierten Nigerianer*innen gebaut worden waren.
Jahre später würde ich die nun rasch expandierende, explodierende Metropole buchstäblich attackieren. Ich streifte überall umher, begierig darauf, das eine Bild, das alles sagte, zu sehen, zu fotografieren, zu machen. Das Bild, das klagte und Refrains sang, dass die Intensität, die Schwüle des Ganzen laut hinausschrie und hinaustrommelte, alle Straßen, sich in unendliche Weiten ausdehnend und seit letzter Zeit in weit entfernte andere Städte und Städtchen reichend. Shagamu, Ibadan, Ijebu Ode, Epe.
Auch ich wundere mich, während ich wandere. Danke, Langston Hughes.

 

Um eine Stadt zu verstehen, ist ihre Ideologie, ihre Religion, ein wesentlicher Aspekt. Die Religionen, die lange vor dem Monotheismus existierten, bilden häufig die Grundlage vieler moderner Megastädte. Ich sehne mich danach, mein Wissen über diese Religionen zu erweitern, es zu vertiefen, an Zeremonien und Festen teilzunehmen. Trotz der starken Präsenz des Islams und des Christentums in Nigeria sind die Religionen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen aus der Zeit vor den monotheistischen Invasionen noch immer sehr lebendig und werden in vielen Fällen noch von ihren Anhänger*innen praktiziert.
Im Yorubaland im Südwesten Nigerias und im Südosten der Republik Benin wird Voudoun, die Isese-Tradition, mit ihrem Pantheon vieler Gottheiten noch eifrig praktiziert, häufig von Anhänger*innen, die gleichzeitig in Moscheen und/oder Kirchen beten. Es handelt sich dabei um unentbehrliches lokales Wissen, die Verehrung von Elementarkräften und -wesen, die Verwendung von Kräutern und Pflanzenheilmitteln, die feine Resonanz von Gesängen und tief verankerten Konfigurationen.

In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts war Lagos eine aufstrebende, verrückte, ständig wachsende Stadt. Ich versuchte, mich durch die Straßen zu bewegen, und stieß dabei oft auf Aggression, laute Stimmen, die mich beschimpften und ihre Wut darüber zum Ausdruck brachten, dass Fotos auf ihre Kosten gemacht wurden. Ich versuchte zu erklären, zu ignorieren, mich vorbeizuschlängeln, doch häufig steigerte sich die Aggression noch. Ich nahm dann die öffentlichen Verkehrsmittel nach Bar Beach und setzte meine Streifzüge dort fort.
Ich kannte den Strand seit meiner Kindheit und hatte seinen allmählichen Niedergang aufgrund des vordringenden Meers miterlebt, der mächtige Atlantik nagte stetig an der Küstenlinie und lagerte den feinen Sand weiter unten an der Küste ab. Die Bar war ein Versuch, dieses Vordringen zu stoppen, daher der Name Bar Beach. Es war auch einer der wenigen Orte in der Stadt, an dem man ungestört fotografieren konnte. Die Besuchenden liebten es, sich porträtieren zu lassen, das Meer, der Atlantik, bildete eine beeindruckende Kulisse.
Die Bilder setzen sich fort, ein Versuch, Macbeths „Niemals“-Dilemma zu ergründen. Er wies die Möglichkeit zurück, der Wald könne sich ihm jemals nähern, wie von den drei Hexen prophezeit. Heute sehen und hören wir vom Austrocknen des Meeres, die Plastifizierung unserer wässrigen Hülle.

Die Fotografie ist ein großes Rätsel. Was genau ist sie? Porträt, Landschaft, Reportage, Stillleben, Dokument, Kunstwerk… Alles davon, nichts davon. Nur ein flüchtiges Fragment, das sich allmählich zersetzt, verblasst oder in den Archiven der Museen versauert.
Das Selbstporträt spielt eine bedeutsame Rolle: das Klischee-Selfie, daher rührt die Beliebtheit von Fotokabinen oder neuerdings Handy-Selfies. Die Faszination von Tabak-, Kaugummi- und Kondomautomaten, die sich häufig nah beieinander befinden, der subtilste Grad des Konsums, die sukzessive Automatisierung des täglichen Lebens. Das Verschwinden der Telefonzellen, der Busfahrer*innen, des Bodenpersonals am Flughafen. Die beängstigende Zunahme von Apps, von automatischen Sprachansagen, von Bildschirmzeit. Die Konfigurationen scheinen endlos zu sein und breiten sich auf den Spielfeldern unseres Unbewussten aus. Ich stehe still, starre auf den Bildschirm und frage mich, welchen Weg ich einschlagen soll, welche App ich als nächstes antippen soll, wann ich das nächste Mal atmen soll. Aber dennoch, ich fotografiere weiter – leidenschaftlich.